23. Dez 2024

Wie wird aus der Umsetzung der Vergaberechtsreform eine echte Transformation?

Ein Beitrag von Bundesrichter Marc Steiner

Erstveröffentlichung in: suisse.ing news 3 2024 (PDF herunterladen)

Anlässlich der Swissbau 2024 hat Cristina Schaffner, Direktorin des Dachverbands Bauenschweiz, den Stand der Dinge so beschrieben, dass wir mit angezogener Handbremse unterwegs sind. Das ist umso bemerkenswerter, als dass das neue Beschaffungsrecht einen wunderbar weiten Spielraum öffnet. Darum habe ich den Spruch von Cris leicht modifizierend – einmal geschrieben, dass die Auftraggeberseite teilweise trotz Rückenwind mit angezogener Handbremse unterwegs ist. Aber das muss nicht so sein, wie wir gleich sehen werden.

Die Diskussion um den Paradigmenwechsel

Nachdem die Vergaberechtsreform im Juni 2019 unter Dach und Fach war, durfte sich die siegreiche Baulobby auf die Schultern klopfen lassen. Aber schon wenig später gingen die Diskussionen los, ob das neue Gesetz nur «wenige Anpassungen» bringe oder ob darin ein eigentlicher Paradigmenwechsel zu sehen sei. Was Mario Marti sowohl als Jurist als auch als Geschäftsführer von suisse.ing dazu denkt, setze ich als bekannt voraus. Aber es wurde auch sehr prominent die Gegenmeinung vertreten, wonach ja schon vorher keine eigentliche Rechtspflicht bestanden habe, das billigste Angebot zu berücksichtigen. Vielmehr seien die auftraggeberseitig geschaffenen Fehlanreize nicht die Folge falscher gesetzlicher Regeln gewesen.

Immerhin herrscht Konsens insoweit, dass der Begriff «das vorteilhafteste Angebot», welches den Zuschlag erhalten soll, der Hintersten und dem Letzten klarmacht, dass das nicht (nur) eine Preisfrage ist. Und dann wurde der Begriff «Vergabekultur» in die Debatte eingeführt, der deutlich macht, dass es nebst dem Qualitätswettbewerbsthema vor allem darum geht, ob und wie die vorbestehenden und neu geöffneten Spielräume dazu genutzt werden, um das neue Gesetzesziel «Nachhaltigkeit» in den Ausschreibungen umzusetzen. Hier ein Marketingtipp für ArchitektInnen und IngenieurInnen: In Ihrer Szene ist der Begriff «Baukultur» gut etabliert. Jetzt müssen wir nur «Baukultur» und «Vergabekultur» so zusammenbringen, dass den mit öffentlichen Aufträgen Befassten die Schnittmenge vor Augen geführt wird. Mit anderen Worten entsteht ohne «Vergabekultur» auch keine «Baukultur» im öffentlichen Sektor.

«Nun ist unbestreitbar, dass ohne echte Transformation des öffentlichen Einkaufs weder Klimapolitik noch Kreislaufwirtschaft und Energiewende funktionieren.»


Aber das ist ein Nebengeleise. Die Hauptlinie bleibt die Frage nach dem Paradigmenwechsel, die den Verfasser dieser Zeilen gelegentlich zu langweilen beginnt. Dies mit folgender Begründung: Seit dem Inkrafttreten der Vergaberechtsreform auf Bundesebene per 1. Januar 2021 sind einige Dinge passiert, die sich massiv auf das öffentliche Beschaffungswesen auswirken. Dazu gehören insbesondere das Klimagesetz (mit der in Art. 10 statuierten Vorbildfunktion des öffentlichen Sektors), die Kreislaufwirtschaftsvorlage und das Bundesgesetz über die sichere Stromversorgung. Nun ist unbestreitbar, dass ohne echte Transformation des öffentlichen Einkaufs weder Klimapolitik noch Kreislaufwirtschaft und Energiewende funktionieren. Und darum ist auch offensichtlich, dass in der Summe dieser vier Erlasse eselsdeutlich ein Paradigmenwechsel zu sehen ist. Damit kann – so würde ich im Rahmen eines Gerichtsurteils methodisch argumentieren – offen d.h. unentschieden bleiben, ob die Vergaberechtsreform allein auch schon als Paradigmenwechsel zu beurteilen gewesen wäre. Und damit hoffe ich, dass wir uns nun neuen Themen zuwenden können.

Was können wir tun, damit die Handbremse gelöst wird?

Um eines vorweg zu sagen: Ich habe grössten Respekt vor der Aufgabe der Vergabestellen. Und wenn mir ein Behördenleiter sagt, er werde zuerst die Preisgewichtung um eine gewisse Prozentzahl zurücknehmen, um zu sehen, ob die neuen Qualitätskriterien bewertungsmethodisch anwendbar sind und akzeptiert werden, bevor er die Preisgewichtung noch einmal zurücknimmt, kann ich das sehr gut nachvollziehen. Dies solange die gemeinsame Orientierung am Transformationsziel nicht in Frage gestellt wird. 

Mir geht es um diejenigen Amtsdirektoren auf Bundesebene und Baudepartementskader in den Kantonen, die mir mehr oder weniger deutlich beziehungsweise hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand ins Gesicht sagen, dass die Vergaberechtsreform ja freiwilig sei und bei ihnen de facto nichts dergleichen statt finden werde. Wenn diese Akteure (fast nur Männer gemeint) damit durchkämen, wäre das ganze Projekt Vergaberechtsreform in weiten Teilen so etwas wie institutionalisiertes Greenwashing im ganz grossen Stil. Und das kann es nicht sein! Und auf Bundesebene, die sowohl nach Art. 10 des Klimagesetzes als auch gemäss der Beschaffungsstrategie des Bundes ganz besonders ambitioniert zu sein hat, schon gar nicht.

Die richtigen Anreize setzen: Was heisst das konkret?

Das neue Gesetz erklärt haben wir nicht einmal, sondern hundertmal. In der föderalen Tiefe braucht es diese erste Generation Roadshow nach wie vor, aber da muss mehr drin sein als nur das «big picture» der Vergaberechtsreform. Vielmehr müssen die Vollzugshilfe TRIAS und die Wissensplattform zur nachhaltigen Beschaffung noch bekannter werden. Aber viele Rechtsanwendende haben auch Schiss vor Rekursen.

«Die grosse Welle von Beschwerden ist weitgehend ausgeblieben.»


Dazu gilt es zunächst festzuhalten, dass entgegen allen Unkenrufen von Reformskeptikern beiderlei Geschlechts nach Inkrafttreten des neuen Rechts die Verwaltungsgerichte übers ganze Gesehen nicht unter ihrer Falllast zusammengebrochen sind. Die grosse Welle von Beschwerden ist weitgehend ausgeblieben. Und dann geht es darum darzustellen, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Verwaltungsgerichte mit dem neuen Gesetz mitgeht. Zu diesem Zweck hat etwa Bauenschweiz am 19. August dieses Jahres ein
Webinar veranstaltet.

Aber mit dieser zweiten Generation Roadshow stehen wir erst am Anfang. Dann kommen die Klassiker Beschaffungsstrategien, Branchendialog und Monitoring. Zumindest auf Bundesebene sollten wir nach österreichischem Vorbild produktkategoriespezifische Weisungen haben, damit gewisse Fragen ausser Streit gestellt sind (Einkauf von Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft usw.). Und richtig glänzende Augen bekomme ich, wenn ich an die Zukunft von «big data» im öffentlichen Beschaffungwesen und den Vergabemonitor von Bauenschweiz denke. Denn: Was gemessen wird, wird auch politisch gesteuert. Packen wir’s an!