25. Nov 2022

Das revidierte Beschaffungsrecht – eine Würdigung

Bundesverwaltungsrichter Marc Steiner würdigt das revidierte Beschaffungsrecht im neuen Buch von Mario Marti «Der Paradigmenwechsel im öffentlichen Beschaffungsrecht» mit einem Vorwort.

Autor: Marc Steiner, Bundesverwaltungsrichter


Es ist mir eine Ehre und zugleich eine Freude, in losem Zusammenwirken mit Ständerat Hans Wicki, Präsident von Bauenschweiz, ein paar Worte zur Entstehungsgeschichte und zur Einordnung der Vergaberechtsreform an Sie zu richten. Die Auswahl der Ereignisse und Themen ist angesichts der Zeichenvorgaben für diesen Text notwendigerweise willkürlich. Für mich persönlich prägend im Sinne von Initialzündungen waren zwei Dinge: Erstens die Stellungnahme der economiesuisse vom 1. Juni 2015 zum Vorentwurf vom April 2015 zum neuen Bundesgesetz über das neue Beschaffungswesen (BöB). Diese hat dahingehend gelautet, dass sich die Nachhaltigkeit nicht als Zweckelement (also: Gesetzesziel) für das neue BöB eignet. Ähnlich zu verstehen war die Medienmitteilung der Bau-, Planungs- und Umweltschutzdirektorenkonferenz (BPUK) vom 22. September 2016 mit dem Wortlaut, wonach Voraussetzungen für die (dringend notwendige) Harmonisierung ist, dass sowohl das Bundesparlament als auch alle kantonalen Parlamente die gemeinsam erarbeitete (nicht besonders progressive) Vorlage ohne grössere Abweichungen gutheissen. Das ist sozusagen der strafrechtlich nicht relevante Versuch einer Nötigung. Harmonisierung gibt es also nur, wenn sich im Gesetz inhaltlich nichts Wesentliches ändert. Um dazu eine Gegenposition aufzubauen, waren zwei Dinge wichtig: Erstens ein möglichst von ideologischen Scheu-klappen freier Narrativ (Stichworte: Paradigmenwechsel und Vergabekultur bzw. Vergabekulturwandel) und zweitens das Mobilisieren derjenigen Wirtschaftsverbände, die Anbieterinteressen vertreten. Dabei konnte der Leidensdruck nutzbar gemacht werden, der sich bei den Anbieterinnen durch den Fokus auf den Preiswettbewerb und eine gewissen Arroganz der Macht der öffentlichen Auftraggeberseite aufgebaut hatte. Dieser Leidens-druck hat nach meiner Wahrnehmung die Energie freigesetzt für die Dynamik, die letztlich den Erfolg der Vergaberechtsreform im Parlament herbeigeführt hat.
Ein weiteres wichtiges Element sind die welthandelsrechtlichen Rahmenbedingungen und der Rechtsvergleich mit dem EU-Vergaberecht. Unsere Vergaberechtsreform hatte neben der Beendigung der Rechtszersplitterung – schon in wenigen Jahren wird uns niemand mehr glauben, dass wir in einem Land geboren sind, in welchem für jeden Kanton eine Zivilprozessordnung, eine Strafprozessordnung und ein eigenes Beschaffungsgesetz gegolten haben – vor allem zum Ziel, das neue Welthandelsvergaberecht, das sogenannte WTO-Government Procurement Agreement (GPA) 2012, umzusetzen. Die Schweiz hat als letzter GPA-Mitgliedstaat am 2. Dezember 2020 die entsprechende Urkunde hinterlegt, also kurz vor Inkrafttreten des neuen Beschaffungsgesetzes am 1. Januar 2021. Insofern ist sofort nachvollziehbar, dass Prof. Hans Rudolf Trüeb die Vergaberechtsreform unter anderem mit Blick auf die Projektdauer als Odyssee beschrieben hat. Aber zurück zur WTO: Nun ist es so, dass im Wesentlichen nur Industriestaaten Mitglieder dieses Beschaffungsabkommens sind, sodass man hier mehr bewegen kann als in anderen Bereichen des WTO-Rechts. Das hat die WTO getan. Das GPA 2012 gilt WTO-intern als «unicorn thing» (Nicholas C. Niggli), weil es gerade im Hinblick auf Nachhaltigkeitsthemen und die Korruptionsprävention seiner Zeit voraus war. Das sind gute Bedingungen für eine Neuausrichtung. Und genau diese Chance hat die EU mit den Vergaberichtlinien 2014 gepackt. Folgerichtig hat die grünliberale Nationalrätin Tiana Angelina Moser die Frage 14.5148 gestellt, ob wir in der Schweiz nun auch ein so tolles, auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Beschaffungsrecht bekommen. Die Antwort von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf war zurückhaltend. Es werde sich im Rahmen der Vernehmlassung die Gelegenheit bieten zu prüfen, ob die neuen Richtlinien der EU Anlass zu einer Anpassung des Entwurfes geben. Und doch hat sich das EU-Vergaberecht zum Teil schon in der bundesrätlichen Botschaft vom 15. Februar 2017, jedenfalls aber in der parlamentarischen Beratung entscheidend ausgewirkt. Das sagen wir natürlich nicht laut, weil sich Europa im Moment im politischen Diskurs nicht so gut verkauft. Aber ich kann mich noch gut an einen Sessionsanlass der Allianz für ein fortschrittliches öffentliches Beschaffungswesen (AföB) vom 28. November 2016 erinnern. Da haben die ersten Baulobbyak-teure nach der Präsentation des europäischen Vergaberechts durch einen Vertreter des deutschen Wirtschaftsministeriums glänzende Augen bekommen angesichts der Erkenntnis, was mit dem entsprechenden politischen Willen alles möglich wäre.

Und dann trat der Akteur auf den Plan, der der Geschichte den richtigen Dreh gegeben hat: Dr. Benjamin Witt-wer, damals Direktor Bauenschweiz. Benjamin Wittwer ist nicht nur ein glänzender Jurist, sondern mit einem politischen Gespür begnadet, das den Beobachter mit Staunen und Faszination zugleich erfüllt. Nachdem an-lässlich der Generalversammlung Bauenschweiz vom 19. April 2017 eine positive Grundstimmung geschaffen worden war, wurde schliesslich nach der ersten Beratung in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats am Bauenschweiz-Parlamentarieranlass vom 30. Mai 2018 der Sack zugemacht. Hauptstossrichtung war die Parole «Mehr Qualitäts- und weniger Preiswettbewerb!», zugleich war aber auch klar, dass Qualitätswettbewerb, Innovation und Nachhaltigkeit zusammengehen. Hinter diese Stossrichtung hat sich die Baulobby in bemerkenswerter Geschlossenheit gestellt. Und gegen diesen Drive war schlicht kein Kraut gewachsen. Wie dann auch noch das vorteilhafteste Angebot als neue Zuschlagsformel die nötigen Mehrheiten fand und damit das wirtschaftlich günstigste Angebot Geschichte war, rieben sich die bisher tonangebenden Vergabe-rechtspolitikerinnen und -politiker, die den Geist des alten Beschaffungsgesetzes verteidigen wollten, die Augen. Diese Darstellung der strategischen Lage bedeutet nicht, dass ich über sämtliche Baulobbypositionen zur Vergaberechtsreform glücklich bin. Aber die grosse Linie ist diejenige des neuen Gesetzes. Natürlich war etwa auch die Textilindustrie auf einer ähnlichen Linie wie Bauenschweiz und der Wirtschaftsverband swisscleantech war sehr aktiv ebenso wie viele Nichtregierungsorganisationen. Aber die Baulobby hat in der politischen Mitte den entscheidenden Tatbeitrag geleistet, ohne den der (zum Glück nicht strafrechtlich relevante) Erfolg entfiele. Es war schön zu sehen, wie der Begriff Paradigmenwechsel zunächst an einer AföB-Veranstaltung, dann in Texten von SIA und Bauenschweiz, später im Parlament (insbesondere Votum Ständerat Hans Wicki) und schliesslich in einem Votum unseres Finanzministers Ueli Maurer Verwendung fand, womit das, was Rudi Dutschke den lan-gen Marsch durch die Institutionen nennt, abgeschlossen war.
Mit der Verabschiedung des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen vom 21. Juni 2019 und der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen am 15. November 2019 sind die Voraussetzungen für Paradigmenwechsel und Vergabekulturwandel geschaffen. Mit grosser Freude sehen wir, dass Bund, Kantone und Gemeinden nun an einem Strick ziehen, damit nicht nur das Recht, sondern auch die Vollzugshilfen wie Leitlinien, Merkblätter usw. vereinheitlicht werden. Das Projekt TRIAS setzt in diesem Bereich Massstäbe. Die früheren Positionen der BPUK und die frühere Arroganz der Macht der Bundesverwaltung gegenüber den Wirtschaftsverbänden sind vergessen. Wer die Essenz des Ganzen erfassen will, möge sich an einem guten Glas Wein oder einem anderen Getränk freier Wahl nippend in einem gemütlichen Stuhl das Faktenblatt «Neue Vergabekultur – Qualitätswettbewerb, Nachhaltigkeit und Innovation im Fokus des revidierten Vergabe-rechts» vom 25. September 2020 zu Gemüte führen. Und der neue Ansatz in Bezug auf den Dialog mit den Stakeholdern auf Augenhöhe wird sichtbar, wenn man die gemeinsame Erklärung des Direktors des Bundesamtes für Bauten und Logistik und des Präsidenten von Bauenschweiz vom 13. Januar 2021 anklickt. Die Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren (KBOB) und Bauenschweiz rufen ihre Mitglieder gemeinsam dazu auf, die neue Vergabekultur positiv mitzutragen und Neuerungen als Chance zu sehen und zu unterstützen.

Jetzt werden Sie sagen: Irgendwie schreibt der Typ, wie wenn Corona nicht gewesen wäre. Stimmt! Aber jetzt kommen wir zum Kern der Botschaft: Weil wir es bei der Vergaberechtsreform mit einem grossen Wurf zu tun haben, haben wir jetzt eine Regulierung, die auch nach dem grünen Wahlsieg im Herbst 2019 und nach Corona noch zukunftsfähig ist. Wir haben gerade auch mit Blick auf die Lieferketten in den letzten Monaten – manch-mal schmerzlich – gelernt, dass Resilienz und Robustheit von Abläufen manchmal mehr wert ist als unterkomplex definierte Effizienz oder der günstigste Preis. Und genau das ist auch die Botschaft des neuen Beschaffungsrechts. Richtig verstanden ist dieses eine Blaupause für zukunftsfähige Formen von Kapitalismus. Frei nach dem Motto: Es gibt mehr als die Wahl zwischen Planwirtschaft und Billigfleisch. Diese Neuorientierung ist für die öffentliche Hand wie auch für die Anbietenden und namentlich die Bauwirtschaft, die über alle föderalen Ebenen hinweg zusammengenommen etwa für die Hälfte des ganzen Beschaffungsvolumens steht, eine Riesenchance.