22. Mai 2023

«Was Best Practice war, wird nun Pflicht»

Der Kanton Thurgau gehört zu den Vorreitern in der Umsetzung des revidierten Beschaffungsgesetzes. Kantonsbaumeister Erol Doguoglu spricht im Interview mit Beat Matter in der Märzausgabe 2023 der Schweizer Bauwirtschaft über Erfahrungen, Ernüchterungen und Chancen.

Im Kanton Thurgau sind seit April 2022 das revidierte kantonale Beschaffungsgesetz sowie die entsprechende Verordnung in Kraft. Wie hat sich die Praxis seither verändert?

Das Mass an Veränderung, das aus dem revidierten Beschaffungsgesetz hervorgeht, hängt stark vom bisherigen Vorgehen einer Vergabestelle ab. Im Kanton Thurgau ziehen wir bei Vergabeentscheiden seit Jahren qualitative Kriterien als Ergänzung zum Preis hinzu. Das revidierte Gesetz stellt unsere Vergabepraxis also nicht auf den Kopf. Es bietet uns aber die Möglichkeit, noch kreativer zu werden in Einbezug von sinnvollen Zusatzfaktoren.

Kreativ?

Ja, durchaus. Ich finde beispielsweise interessant, dass in den revidierten Gesetzesgrundlagen explizit auch Studienaufträge und Wettbewerbsverfahren erwähnt sind – mit der Möglichkeit, den Auftrag im Anschluss freihändig zu vergeben. Mit etwas Kreativität und interkantonaler Schwarmintelligenz könnte man Versuche wagen, um solche Verfahren nicht nur in der Beschaffung von Architekturleistungen anzuwenden, sondern von weiteren Planerleistungen, ja vielleicht sogar von Bauleistungen.

Sind Sie in der bisherigen Praxisumsetzung im Kanton Thurgau auf Probleme gestossen?

Nein. Aber vonseiten der Wirtschaft spüren wir den Druck, dass wir Spielräume, die das revidierte Beschaffungsgesetz bietet, weiter ausloten. Mit solchen Möglichkeiten befassen wir uns intensiv. Gleichzeitig wird es spannend sein, zu verfolgen, zu welchen Urteilen die Justiz in ersten konkreten Fällen gelangt – etwa in der Frage, wie die minimale Gewichtung des Preises bei spezifischen Anforderungen zu gewichten ist.

Noch haben nicht alle Kantone die Revision abgeschlossen. Welche Tipps würden Sie den Kantonen geben, in denen dieser Prozess noch läuft?

Ich habe nicht das Fachwissen, um Anregungen zum Gesetzgebungsprozess zu geben. In der Sache ist es so, dass es zwischen dem Bundesgesetz (BöB) und der interkantonalen Vereinbarung (IVöB) Abweichungen gibt, etwa in der Definition von Zuschlagskriterien. Die Kantone können die Abweichungen korrigieren, indem sie Zuschlagskriterien ins kantonale Gesetz schreiben, die im BöB, nicht aber in der IVöB festgelegt sind. Mein Tipp an andere Kantone: Es lohnt sich, genau zu überlegen und zu hinterfragen, welche Ergänzungsmöglichkeiten sich eignen, um effektive Praxisprobleme zu lösen.

Der Kanton Thurgau hat das Zuschlagskriterium «Unterschiedliches Preisniveau in den Ländern, in welchen die Leistung erbracht wird» aufgenommen. Bewährt es sich nicht?

Die Erfahrungen mit einer Pilotausschreibung deuten darauf hin, dass die Klausel zu durchwachsenen Ergebnissen führt. Sie bedeutet für alle Submittenten einen Zusatzaufwand, der so gross ist, dass im Pilotversuch mehrere Anbieter auf die nötigen Angaben verzichteten und folglich ausgeschlossen werden mussten. Obwohl der Kanton Thurgau ein Grenzkanton ist, wird nur ein verschwindend kleiner Anteil der öffentlichen Aufträge an ausländische Anbieter vergeben. Da ist für mich schon fraglich, ob das Verhältnis von Aufwand und Ertrag in diesem Aspekt stimmig ist.

Auf Vergabeseite wird die Beschaffung durch differenziertere Bewertungskriterien anspruchsvoller. Entsprechend fordern Bauenschweiz und seine MItgliedverbände eine Professionalisierung der Vergabestellen und -Prozesse. Wie beurteilen Sie den Bedarf im Kanton Thurgau?

Auf kantonaler Ebene sind wir gut aufgestellt und verfügen über Ressourcen und Wissen, um auch komplexere Vergabeprozesse professionell durchzuführen. Für kleinere Vergabestellen, die teils nur wenige Beschaffungen jährlich durchführen, wird das Prozedere aber durchaus anspruchsvoll. Mit der kantonalen Fachstelle öffentliche Beschaffung verfügen wir über die nötige Anlaufstelle für kantonale sowie kommunale Vergabestellen, um Beratung und Unterstützung zu erhalten.

Die Anbieter hoffen, dass das revidierte Beschaffungsgesetz den Preiskampf entschärft und jenen Offerierenden bessere Chancen gibt, die langfristig vorteilhafte Angebote eingeben. Sehen Sie diese Entwicklung im neuen Thurgauer Vergabealltag?

Das passiert nicht automatisch. Denn solange der Preis ein Vergabekriterium ist, wird es immer auch einen Preiskampf geben. Dieser ist nicht grundsätzlich unerwünscht. Schliesslich habe ich als ausschreibende Stelle ein Interesse daran, einen guten Preis zu erhalten. Was ich aber vor allem will, ist eine gute Leistung. Und da muss man sich als Vergabestelle schon fragen, wie weit man es mit der Preisorientierung treiben kann, ohne dass man sich mit mangelhaften Leistungen ins eigene Fleisch schneidet. Hierbei bietet das revidierte Beschaffungsrecht wertvolle Unterstützung.

Verstehe ich das richtig: Der Preiskampf bleibt, er verlagert sich mit zusätzlichen Vergabekriterien aber auf ein anderes Niveau?

Es geht in diese Richtung. Als Stadtbaumeister in St. Gallen habe ich vor einigen Jahren versuchshalber ein Präqualifikationsverfahren für die Beschaffung von Bauleistungen durchgeführt. Es zeigte sich: Lässt man nur Unternehmungen offerieren, welche die Präqualifikation geschafft haben, resultiert ein abgemilderter Preiskampf. Als Vergabestelle zahle ich einen etwas höheren Preis. Dies aber in der Gewissheit, dass der Leistungserbringer in der Lage ist, die Anforderungen verlässlich zu erfüllen.

Spricht man mit Anbietern, fragen sich viele, wie es gelingen soll, zusätzliche qualitative Vergabekriterien praxisgerecht bewertbar zu machen.

Ich verstehe das. Es ist eine grundsätzliche Herausforderung bei Beschaffungen, die nachgefragten Leistungen und Qualitäten so klar und treffend zu beschreiben, dass allen Seiten klar ist, was gemeint ist und wie bewertet wird. Wie bei allen vertraglichen Angelegenheiten ist es jedoch auch bei Beschaffungen unmöglich, bis ins letzte Detail alles restlos zu definieren. Ist einem das bewusst, kann man im konkreten Fall transparent und konstruktiv Lösungen erarbeiten. In der Praxis nehme ich die Bauwirtschaft insgesamt als Branche wahr, mit der man gemeinsame Nenner findet, wenn man lösungsorientiert an Fragen herangeht. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies im Bereich des revidierten Beschaffungsgesetztes ebenfalls gelingt.

Nach einem knappen Jahr, in dem Sie im Kanton Thurgau nach dem revidierten Gesetz beschaffen: Ist es Grundlage für den vielzitierten Paradigmenwechsel?

Aus der bisherigen Vergabepraxis des Kantons Thurgau heraus ist das revidierte Beschaffungsgesetz für uns ein willkommenes Finetuning. Für Beschaffungsstellen, die bisher hart nach Preis vergeben, stellt es aber durchaus einen Paradigmenwechsel dar. Was ‹Best Practice› war, wird nun Pflicht. Das ist eine gute Entwicklung.