25. Mär 2024

„Eine Aufgabe der Chefetage“

Die psychischen Belastungen, krankheitsbedingte Ausfälle und Abgänge von frustrierten Fachkräften mehren sich in der Baubranche. Im Interview erklärt die BGM-Expertin Lucy Waersegers, wie Unternehmen das Wohlbefinden und die Gesundheit am Arbeitsplatz fördern können.

Interview: Nicolas Gattlen


Frau Waersegers, das Forum BGM Aargau unterstützt Unternehmen bei der Einführung und Umsetzung von gesundheitsförderlichen Massnahmen. Ist es nicht Sache der Angestellten, sich um ihr Wohlergehen, ihre Gesundheit und Fitness zu kümmern?

Lucy Waersegers: Die Eigenverantwortung ist wichtig. Und viele Firmen setzen auf dieser Ebene an. Sie organisieren beispielsweise Kurse zur Stressbewältigung, bieten Vergünstigungen auf Fitnessabos an, organisieren Seminare zu Themen wie „gesunde Ernährung“ oder „Ergonomisches Arbeiten“, stellen Früchtekörbe oder Yogamatten hin. Aber das reicht nicht: Die Firma muss die nötigen Rahmenbedingungen für ein gutes Arbeitsklima schaffen.

Was meinen Sie damit?

Die Strukturen und Arbeitsprozesse, aber auch die Firmenkultur und Führung beeinflussen massgeblich die Gesundheit der Mitarbeitenden. Es ist also wichtig, dass der ganze Betrieb unter dem Blickwinkel der Gesundheit analysiert und das Thema „Gesundheit am Arbeitsplatz“ in der Firmenstrategie verankert wird. Das betriebliche Gesundheitsmanagement ist eine Aufgabe der Chefetage. Sie steht und fällt mit der Geschäftsleitung und kann nicht einfach an die HR-Abteilung oder einen Sicherheitsverantwortlichen delegiert werden.

Inzwischen ist das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) in den meisten grossen Unternehmen und Organisationen fest verankert. Viele KMU aber schrecken davor zurück: Sie befürchten, dass es zu aufwändig oder unpassend ist.

Ich sehe gerade die KMU diesbezüglich im Vorteil: Sie sind in der Regel flexibler, haben kürzere Entscheidungswege und einen engen Bezug zu den Mitarbeitenden. Natürlich ist BGM nicht gratis zu haben – wichtiger als das Budget aber sind die Werte. Wenn die Geschäftsleitung das wirklich umsetzen will, wird es am Geld nicht scheitern.

Was gewinnt die Firma?

Eine ganze Menge: Es gibt weniger Personalwechsel und weniger Absenzen aufgrund von Krankheiten und Unfällen, das Betriebsklima verbessert sich, die Produktivität und Zufriedenheit steigen und das Image der Firma wird aufgewertet. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels können die KMU mit einer konsequenten Gesundheitsförderung viel gewinnen.

Das Forum BGM Aargau berät pro Jahr etwa 20 bis 30 Unternehmen und Organisationen. Was bewegt die Unternehmen, sich dem Thema „Gesundheit“ anzunehmen?

Oft melden sie sich, nachdem die Krankentaggelder in die Höhe geschossen sind oder wenn sie feststellen, dass die Absenzen stetig steigen. Einige kommen auch mit gezielten Fragen etwa zu Mobbing, Burn-out, Stressthemen oder Generationenfragen zu uns.


Interviewpartnerin: Lucy Waersegers, Forum BGM Aargau

Lucy Waersegers


Lucy Waersegers ist Geschäftsführerin des Forum BGM Aargau. Das Forum wurde 2007 von Akteuren der Gesundheits- und Wirtschaftspolitik des Kantons Aargau gegründet und verfolgt das Ziel, betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) im ganzen Kanton zu verbreiten.


Wie lässt sich betriebliches Gesundheitsmanagement erfolgreich etablieren?

Zuerst sollte eine Auslegeordnung gemacht werden: Was gibt es bereits, was fehlt? Diese Analyse kann über ein Gespräch mit einem externen Berater oder mithilfe von online-Tools erfolgen. Auch eine anonyme Umfrage bei den Angestellten kann helfen, Schwachstellen zu entdecken und sich der vorhandenen Stärken bewusst zu werden. Vielleicht wünschen sich die Angestellten flexiblere Arbeitszeitmodelle, mehr Wertschätzung von den Vorgesetzten, eine bessere Kommunikation, ein gesünderes Menüangebot in der Kantine. Dann gilt es, Massnahmen festzulegen, umzusetzen und zu evaluieren.

Man kann sich leicht im Dschungel möglicher Massnahmen verlieren. Was sind die grössten Hebel, um ein gesundheitsförderndes Arbeitsumfeld zu schaffen?

Ganz klar die Vorgesetzten. Sie setzen durch ihr Verhalten und ihre Kommunikation die Massstäbe, wenn auch oft unbewusst. Ein Beispiel: Wagen Vorgesetzte auch mal, ihre Fehler einzugestehen, werden auch die Mitarbeitenden dazu ermutigt, Fehler rascher zuzugeben. Gute Führung und Kommunikation sind essenziell für das Wohlbefinden der Mitarbeitenden. Wichtig ist zudem, dass die Vorgesetzten die Gesundheit bei jeder Entscheidung mitdenken.

Können Sie uns ein Beispiel geben?

Nehmen wir die Einführung einer neuen Technologie oder eines neuen IT-Systems: Dies kann gerade bei älteren Mitarbeitenden grosse Verunsicherung, Angst und Stress auslösen. Dem können die Geschäftsleitung und Vorgesetzten mit einer guten Kommunikation und sorgfältigen Schulung in der Regel erfolgreich entgegenwirken. Einige Firmen haben sogenannte „Generationen-Tandems“ geschaffen: Dabei unterstützt jeweils ein jüngerer, tech- und digitalaffiner Mitarbeitender einen älteren Kollegen im Umgang mit neuen Technologien. Umgekehrt kann der Jüngere vom Wissen und von den Erfahrungen des Älteren auf anderen Gebieten profitieren.

In der Baubranche sind die psychischen Belastungen besonders hoch. Vielen Beschäftigten macht der permanente Zeitdruck, die hohe Arbeitsintensität und die enge Verzahnung mit den anderen Gewerken zu schaffen. Passiert irgendwo ein Fehler und ist die Zeit ohnehin knapp, verstärkt sich der Druck. Die Folge: Psychische Leiden und Burn-outs nehmen zu. Wie können Unternehmen solche Erkrankungen vorbeugen?

Stressfaktoren wie grosser Zeitdruck oder hohe Arbeitsintensität lassen sich in vielen Fällen durch organisatorische Massnahmen und optimierte Prozesse reduzieren, aber nicht komplett ausräumen. Deshalb müssen auch die arbeitsbezogenen Ressourcen gestärkt werden. Das sind Merkmale des Arbeitsumfelds, die die Bewältigung der Belastungen erleichtern. Das kann beispielsweise die Wertschätzung der geleisteten Arbeit sein, ein unterstützendes Verhalten des Vorgesetzten oder ein grosser persönlicher Handlungsspielraum. Je mehr Belastungen und je weniger Ressourcen am Arbeitsplatz zur Verfügung stehen, desto höher ist das Risiko, dass Stress entsteht.

Und was können die gestressten Arbeitnehmenden tun?

Zuerst einmal ist es wichtig, dass sie bei sich selbst genau hinschauen und ehrlich sind, gegenüber sich und den anderen. Das ist nicht ganz einfach, denn vielerorts herrscht noch immer eine Kultur des „Starkseins“ und der „Coolness“. Also will man keine Schwächen zeigen und tut oft alles, um bei der Arbeit unauffällig zu bleiben. Über die Dauer aber können sich die psychischen Probleme so verstetigen und verstärken, bis hin zu einem schweren Burn-out. Je früher man die Zeichen erkennt und sich Unterstützung holt, umso grösser sind die Chancen, dass man dem „Hammer“ entkommt.

Hier finden Unternehmen Unterstützung bei der Einführung von BGM

Inzwischen verfügen fast alle Kantone über ein Forum BGM (in der Zentral- und Westschweiz sind sie noch im Aufbau). Die Foren unterstützen Betriebe kostenlos bei der Einführung und Umsetzung von gesundheitsförderlichen Massnahmen am Arbeitsplatz. Auf ihren Websites finden sich zudem Literaturtipps, Checklisten, Links und Videos zu vielen BGM-Themen.

Auch die Stiftung „Gesundheitsförderung Schweiz“ unterstützt Unternehmen bei der Umsetzung von BGM. Sie bietet auf ihren Webportalen www.gesundheitsfoerderung.ch und www.friendlyworkspace.ch kostenlose Tools (z. B. Job-Stress-Analysis), Broschüren und Weiterbildungen an; ein spezielles Angebot richtet sich an KMU.

Zudem lohnt es sich, beim Krankentaggeldversicherer anzufragen: Viele Versicherer bieten kostenlose Dienstleistungen in den Bereichen Care Management (Prävention) und Case Management (Wiedereingliederung nach langwierigen Krankheitsfällen) an.