31. Jan 2023

Von der Raupe zum Schmetterling

Laurens Abu-Talib erzählt vom Einsatz der Allianz für ein fortschrittliches öffentliches Beschaffungswesen AföB im neuen Buch von Mario Marti «Der Paradigmenwechsel im öffentlichen Beschaffungsrecht».

Laurens Abu-Talib, Geschäftsführer AföB

Dies ist die Geschichte der Allianz für ein fortschrittliches öffentliches Beschaffungswesen AföB. Ihre Entstehung, wie diese mit der usic, der Revision des Beschaffungswesens und mir selbst verknüpft ist. Kennen Sie das Bild des Schmetterlings, der mit einem Flügelschlag die Wettergeschicke am anderen Ende des Planeten beeinflusst? Das Bild des Meteorologen Edward Lorenz ist sowohl zutreffend als auch irreführend. Ich beginne bei der Raupe.

Nur kurze Zeit nach meinem Arbeitsbeginn bei der usic erteilte Mario Marti mir die Aufgabe, eine Stellungnahme zur soeben eröffneten Vernehmlassung der revidierten interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) zu verfassen. Auftrag: Die Qualität gegenüber dem Preis zu stärken. So gering meine Kenntnisse dieser komplexen Materie waren, so hoch war meine Motivation, mich einzulesen und diese zu verstehen. So verschwand ich unter Berichten und Gesetzestexten, las jede erdenkliche, mir zugängliche Quelle und besuchte Veranstaltungen zum Thema. An einer dieser Veranstaltungen traf ich auch Bundesverwaltungsrichter Marc Steiner, dessen humorvolle und frische Art über ein so trockenes Thema zu referieren mich in den Bann zogen. Ab da wusste ich, Beschaffungsrecht ist cool. Die Raupe hatte eine erste Feuerprobe bestanden und die Stellungnahme der usic zur IVöB verfasst.

Eine kleine Raupe sucht ihren Weg

Aufgrund der Harmonisierungsbestrebungen zwischen Bund und Kantonen war die bald folgende Vernehmlassung zum Bundesgesetz (BöB) keine grosse Herausforderung mehr. In der Zwischenzeit machten wir uns auf der Geschäftsstelle Gedanken, wie wir unsere Anliegen im Rahmen des anstehenden parlamentarischen Prozesses einbringen konnten. So kam rasch die Idee auf, eine Allianz mit Gleichgesinnten zu bilden. Wieder fiel der Auftrag an mich, diese zu erschaffen. Wie macht man eine solche Allianz? Erinnerungen an ein Seminar über Public Affairs und Lobbying, das ich an der Uni besucht hatte, wurden geweckt. Ein Lobbyist einer grossen Agentur hatte damals beschrieben, wie er für die Polizeiverbände eine Allianz aufbaute. Es war auch der Moment, in dem ich wusste, was ich einmal machen wollte. Nun war es also so weit. Die Raupe begann sich in ihren Kokon zu wickeln.

Die Verwandlung

Die Quadratur des Kreises war, eine kritische Grösse an Verbänden zu erreichen und gleichzeitig die kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Planungsleistungen sind intellektuelle Dienstleistungen. Damit verlängerte sich die Liste um die Public Relations Leute, die Übersetzungsbranche und sogar die Medizinal-Dienstleister. So wurden auch wir selbst ein wenig in Schach gehalten. Wir mussten Anliegen vertreten, welche für alle Mitglieder von Bedeutung waren. Gleichzeitig stieg so die Chance, bei der Politik Gehör zu finden. Wir formulierten allgemeine Leitsätze, zu welchen sich Allianzmitglieder bekennen mussten und an denen sich die darauffolgenden Inhalte orientieren sollten. Die Beitrittshürden waren niedrig. Verrechnet wurden nur extern anfallende Kosten und jeder Verband bezahlte, was er konnte. Die usic als Geschäftsstelle übernahm die Differenz. Alle durften, niemand musste. Bereits während der BöB-Vernehmlassung, nahm die Allianz an Grösse zu. Auch organisierten wir einen eigenen Sessionsanlass, an dem wir Experten des Beschaffungsrechts zu Wort kommen liessen, unter anderem auch Marc Steiner. Die Raupe begann ihren Prozess der Transformation.

Formfindung und Aufbruch

Nach Abschluss der BöB-Vernehmlassung wurden alle Mitglieder eingeladen, uns ihre Stellungnahmen zuzustellen. Wieder begrub ich mich unter Dokumenten mit dem Ziel, aus den Stellungnahmen jene Punkte herauszuschälen, welche von allen Mitgliedern mitgetragen werden konnten. Daraus entstand ein umfangreiches Dokument mit konsolidierten, konkreten Änderungsanliegen für jeden relevanten Gesetzesartikel, priorisiert nach Wichtigkeit. Aus den Anliegen formulierte ich weitere Eventualanträge, für den Fall, dass die Hauptanliegen im Parlament nicht übernommen würden. Das Dokument wurde in eine interne Vernehmlassung geschickt und verabschiedet. Nachträgliche Änderungen waren nicht mehr möglich. Ab diesem Moment hatte ich einen klaren Auftrag und musste nicht mehr jede Änderung mit dem Allianz-Gremium abstimmen. Es galt die Regel: Jede Organisation kann für sich selbst lobbyieren. Sofern dies Anliegen der AföB betraf, durfte aber keine abweichende Haltung eingenommen werden. Der Kokon öffnete sich und ein Schmetterling kam zum Vorschein.

Der erste Flügelschlag

Der Schmetterling schlüpfte mit der Streuung des umfangreichen Dokuments innerhalb der Branchen. Organisationen, die bisher noch keine konkreten Änderungsvorschläge hatten, waren so versucht, unsere Positionen zu übernehmen. So geschehen im Fall von Bauenschweiz. Sobald das Geschäft in der Kommission des Erstrats traktandiert wurde, war es an der Zeit, auf die Ratsmitglieder zuzugehen. Ich identifizierte die für das Geschäft zuständigen Mitglieder der jeweiligen Fraktionen und verteilte unsere Einzelanliegen nach deren politischen Färbung. Dabei ergaben sich durchaus Schnittstellen. So konnte dasselbe Anliegen aus unterschiedlichen Sichtweisen portiert werden. Dank solider Vorarbeit waren nur wenige, kurze Einzelgespräche nötig, um die Änderungen beliebt zu machen. Gleichzeitig informierte ich jene Ratsmitglieder über die Absicht anderer Ratsmitglieder, gewisse Änderungen als Antrag einzureichen. So hatten wir einen Rückfallplan. Flankierend versendeten wir unsere Anliegen kurz vor der anstehenden Kommissionssitzung noch einmal an alle Kommissionsmitglieder.

Rückenwind ist einfacher als Gegenwind

Die Erstkommission publizierte ihre Medienmitteilung. Zu unserer Freude stellten wir fest, dass viele unserer Anliegen als Mehrheits- und Minderheitsanträge an den Erstrat aufgenommen wurden. Rückenwind ist einfacher als Gegenwind. Denn unbestrittene Anträge werden im Erstrat stillschweigend übernommen. Gleiches gilt für die Behandlung im Zweitrat. Und so kam es, dass nach der ersten Beratung im Nationalrat bereits eine Vielzahl unserer Anliegen eingebracht wurden. Mittlerweile waren die Positionen zwischen der AföB und Bauenschweiz weitgehend konsolidiert, wenn auch die AföB mehr Anliegen vertrat. Im Hinblick auf die Beratungen im Zweitrat wurde das direkte Lobbying entsprechend stärker an Bauenschweiz ausgelagert. Benjamin Wittwer und ich koordinierten uns täglich, tauschten aktuelle Entwicklungen aus und berieten uns strategisch. Das durch den Flügelschlag ausgelöste Lüftchen begann sich von einem Wind zu einer Böe zu entwickeln.

Ein Sturm braut sich zusammen

An einem kritischen Punkt drohte die Einheit der Bauwirtschaft beinahe zu brechen. Eines unserer zentralen Anliegen war die Einführung des Zuschlagskriteriums «Plausibilität des Angebotes». Wir verstanden darunter sowohl eine preisliche als auch eine qualitative Dimension, deren Interpretation sich im Laufe der Zeit zu Gunsten der Qualität verändern sollte. Das Anliegen war in der Ratsdebatte unbestritten und wurde ebenso von den Kantonen übernommen. Der Baumeisterverband machte sich für das neue Kriterium «Verlässlichkeit des Preises» stark, ein Anliegen, das aus unserer Sicht die «Plausibilität» schwächte und den Fokus zu sehr auf den Preis richtete. Auch politisch wurde die «Verlässlichkeit» eher mit dem ebenfalls durch die Fairpreis-Allianz eingebrachten Heimatschutzartikel der «Unterschiedlichen Preisniveaus» assoziiert. Letzterer wurde in der Einigungskonferenz als «Piece de Résistance» bekannt, der beinahe die gesamte Revision zum Absturz brachte. Ein Sturm war geboren.

Den Blick für das grosse Ganze nicht verlieren

Um eine Kakophonie der Verbände zu verhindern, unterstützte auch die AföB die «Verlässlichkeit» und die usic beteiligte sich an der Umsetzung im Rahmen der KBOB-Empfehlungen. Heute sind einzelne Kantone bestrebt, die «Verlässlichkeit» durch Dekret in ihren Beitrittsgesetzgebungen zur IVöB zu ergänzen. Im Sinne einer grösstmöglichen Harmonisierung und den dazu bereits erarbeiteten KBOB-Empfehlungen, ist dies eine positive Entwicklung. Viel wichtiger ist aber die Gesamtbetrachtung der Revision. Der Paradigmenwechsel liegt nicht in einzelnen Zuschlagskriterien oder deren Berechnungsmethoden. Hier droht eher die Gefahr, das grosse Ganze aus den Augen zu verlieren und vor allem, die qualitativen Zuschlagskriterien und deren Bewertungsmethoden zu vernachlässigen, indem zu sehr am Preis geschraubt wird.

Der Geist der Zusammenarbeit lebt weiter

Der Schmetterling fliegt auch nach seinem ersten Flügelschlag weiter. Im Nachgang der Revision fokussiert die Allianz auf Informationsvermittlung und Sensibilisierung. Wir veranstalten Webinare, halten Vorträge, unterstützen Regionen bei der Umsetzung auf Kantonsebene und sind Ansprechpartner rund um den Kulturwandel im Beschaffungswesen. Das Projekt hatte fast alles, was eine gute Geschichte ausmacht. Spannung, Freundschaften, Intrigen, Versöhnungen und ein Happy End. Die Bauwirtschaft war eine treibende Kraft hinter der Revision. Und die AföB hat wesentlich dazu beigetragen, dass diese Kräfte gebündelt und zielgerecht eingesetzt wurden, sowohl diskret im Hintergrund als auch proaktiv im Vordergrund. Darauf können und dürfen wir stolz sein. Mein Dank geht neben Benjamin Wittwer insbesondere an Mario Marti und alle Mitglieder der AföB, ohne deren Vertrauen, Selbstbeherrschung und Unterstützung dies alles nicht möglich gewesen wäre. Mit Cristina Schaffner ist neu eine Person bei Bauenschweiz am Ruder, welche den Geist dieser Zusammenarbeit weiterführen und vertiefen kann. Sie kann den Sturm zähmen.