13. Jan 2021

Neue Vergabekultur – Wandel auch in der Rechtssprechung

Zum neuen Beschaffungsrecht gibt es noch keine Entscheide. Aber die Gerichtsentscheide zum alten Recht hinterlassen Spuren, die sich wie diejenigen von Tieren im Wald lesen lassen. Vergaberechtsexperte Marc Steiner liest die ersten Spuren im Schnee.

Beitrag von Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht und Experte für Vergaberecht (äussert seine persönliche Meinung)

Am 20. Mai 2018 hat im Hotel Bellevue der legendäre Parlamentarieranlass von Bauenschweiz stattgefunden, mit welchem die Kernforderungen der Baulobby für die Vergaberechtsreform festgezurrt worden sind. Diese haben es in der parlamentarischen Debatte im Wesentlichen unangefochten über die Ziellinie geschafft. Nebenbei gesagt: Wer ein bisschen über den Tellerrand schaut, erkennt gewisse Baulobbyforderungen aus der europäischen Vergaberechtsreform (2014) wieder. Benjamin Wittwer war als Direktor von Bauenschweiz ebenso verblüfft wie ich über die zu schwache Gegenwehr der Vertreter der Philosophie des geltenden Vergaberechts. Das gilt insbesondere für die Economiesuisse. Mut und Geschlossenheit der Baulobby sind zu Recht belohnt worden. Und jetzt tritt am 1. Januar 2021 das neue Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen in Kraft. Der Zuschlag wird nicht mehr dem wirtschaftlich günstigsten, sondern dem vorteilhaftesten Angebot erteilt. Es soll ein Vergabekulturwandel stattfinden, wie aus dem Faktenblatt Vergabekultur der Beschaffungskonferenz BKB und der Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren KBOB vom 25. September 2020 hervorgeht. Qualitätswettbewerb, Innovation und Nachhaltigkeit sind die Schlagworte dazu. Am 25. September 2018 haben wir für die üblichen Verdächtigen der Bauszene ein Seminar veranstaltet zur Frage, ob sich da eigentlich auch die Justiz bewegt. Jetzt ist es Zeit, diese Gedanken für ein breiteres Publikum nachvollziehbar zu machen. Zum neuem Recht gibt es natürlich noch keine Entscheide. Aber die Gerichtsentscheide zum alten Recht hinterlassen Spuren, die sich wie diejenigen von Tieren im Wald lesen lassen. Ob das nun Fussabdrücke in Erde oder Schnee, abgebrochene Äste oder Exkremente sind, spielt dabei keine Rolle. Gehen wir in den Schnee!

Erstes Tier im Wald:

Vom höchsten Gericht in Lausanne gesprochenes, in der amtlichen Sammlung publiziertes Urteil BGE 139 II 493 (Erwägung 2) aus dem Jahre 2013 mit hoher Akzeptanz und ergangen in bewusster Abweichung zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zum europäischen Beschaffungsrecht. Die EU-Richtlinien 2014 haben übrigens die Luxemburger Rechtsprechung so korrigiert, dass das Bundesgerichtsurteil BGE 139 II 493 inzwischen europarechtskonform wäre. Es hat sich also auf allen Ebenen etwas bewegt. Aber worum geht es? Das Bundesgericht hatte die Frage zu beantworten, ob insbesondere die Qualifikation von Schlüsselpersonal nur im Rahmen der Eignungsprüfung zu berücksichtigen ist bei der Frage, ob der Anbieter zugelassen oder ausgeschlossen wird. Oder ob es zulässig sein soll, das bessere Schlüsselpersonal bzw. entsprechende Ausbildungen oder Referenzen auch im Rahmen des Zuschlags im Sinne eines Mehrwerts des Angebots bzw. von «Mehreignung» zu berücksichtigen. Die formalistische Antwort wäre, dass man die Eigenschaften des Angebots und diejenigen der Anbieter strikte auseinanderhalten muss, was die Berücksichtigung von «Mehreignung» im Rahmen der Bewertung der Angebote anhand der Zuschlagskriterien verbieten würde. Das Gericht hat richtigerweise in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht (BVGE 2011/58) erkannt, dass das bei anspruchsvollen Projekten und insbesondere Dienstleistungen so nicht zielführend ist, weil man ja insbesondere mit anspruchsvollen Dienstleistungen auch «das Gehirn des Anbieters» miteinkauft. Vergaberechtspolitisch gesehen ist das Bundesgerichtsurteil ein Bekenntnis zum Qualitätswettbewerb, weil mit der Mehreignung insbesondere von Schlüsselpersonal ein höherer Preis gerechtfertigt werden kann.

Zweites Tier im Wald: 

Ein weniger bekanntes, ebenfalls in der amtlichen Sammlung publiziertes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2018 (BVGE 2018 IV/2, Erwägung 7.4). Um dieses zu verstehen, muss zunächst kurz die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Preiskriterium in Erinnerung gerufen werden. Das Bundesgericht (und mit ihm das Bundesverwaltungsgericht) hat stets betont, dass dem Preis nach geltendem Beschaffungsrecht ein Mindestgewicht von 20 Prozent zukommen muss. Damit diese Regel nicht umgangen wird, hat das Bundesgericht auch erkannt, dass die Bewertungsmethode für den Preis so sein muss, dass die «effektive» (durch die Bewertungsmethode bewirkte) Gewichtung die den Anbietern bekannt gegebene Gewichtung nicht konterkariert, also zu dieser nicht offensichtlich im Widerspruch steht. Die Wahl der Bewertungsmethode für die qualitative Bewertung wurde demgegenüber – etwas vereinfacht gesagt – weitgehend den Vergabestellen überlassen. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen hat indessen mit einem Urteil aus dem Jahre 2016 festgehalten, dass auch die Bewertungsmethode für die Qualität so gewählt werden muss, dass die dadurch bewirkte «effektive Gewichtung» nicht in Widerspruch steht zur bekannt gegebenen Gewichtung der qualitativen Kriterien. Zu diesem Schluss ist im Jahre 2018 auch das Bundesverwaltungsgericht gekommen. Dabei nimmt das Urteil BVGE 2018 IV/2 (Erwägung 7.4) auch eine Aussage eines früher ergangenen Zwischenentscheides auf, nach welchem die Bewertungsmatrix dazu dienen soll, die Qualität differenziert zu beurteilen. Dabei ist ein Bewertungssystem, mit dem man nur einen, zwei oder drei Punkte erhalten kann für die Bewertung der Qualität weniger günstig als eine Matrix, die beispielsweise eine Bewertung mit 1-5 Punkten ermöglicht (vgl. dazu neuerdings auch das Urteil des BVGer B-1185/2020 vom 1. Dezember 2020 Erwägung 5.6). Indem das Bundesverwaltungsgericht und sehr vergleichbar das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen durch diese Aussagen die Bedeutung der Qualität gegenüber dem Preis erhöhen, ist auch in dieser Rechtsprechung aus strategischer Sicht ein Bekenntnis zum Qualitätswettbewerb zu sehen.

Diese (keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden) Erkenntnisse decken sich nach meiner Wahrnehmung mit unseren Erfahrungen aus der Coronakrise. Wenn uns allen etwas klar geworden ist, dann dass das Funktionieren der Wirtschaft, wie sie vor Corona (status quo ante) war, weder von Gott noch naturgesetzlich vorgegeben ist. Der Fall der Mauer war, was auch in der NZZ zu lesen war, nicht das Ende der Geschichte. Die Summe der Regulierungen ist ein Anreizsystem, dass durch das Drehen an gewissen Stellschrauben beeinflusst werden kann, wie es die Baulobby im Rahmen der Vergaberechtsreform vorgemacht hat. Jetzt gilt es, die tatsächlich gelebte Vergabekultur der Auftraggeberseite, die Diskussionen im Rahmen der kantonalen Beitrittsprozesse zur Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen IVöB und natürlich auch die Rechtsprechung der Gerichte im Auge zu behalten. Der Austausch über die wichtigen Fragen ist der Weg vorwärts!